Kürzlich stolperte ich über eine Textstelle in einem mittelmäßigen Roman.

Der Protagonist fragt seine Nachbarin, wieviel sie in ihrem Job verdient.
Sie antwortet: „Wie unhöflich! Willst du mich auch noch fragen, wie alt ich bin und wieviel ich wiege?“

Das hat mich stutzig gemacht. Wieso ist es unhöflich, zu fragen, wieviel jemand verdient? Wieso wird es als unhöflich empfunden, über Geld zu reden?

Tabu-Thema Geld: USA vs BRD?

Zunächst tat ich das ab als eine Eigenheit der Amerikaner. Schließlich lese ich einen Roman eines Amerikaners. Wird wohl ein Kultur-Unterschied sein, dachte ich. Aber ich irrte mich.

Eine Studie im Auftrag der Postbank (aus dem Jahr 2015) legte nahe, es seien gerade wir Deutschen, die nicht gerne über Geld reden. Fast 64% aller Deutschen würden das als unangenehm empfinden. Die Postbank sieht da einen großen Unterschied zu den USA.

Jenseits des Atlantiks sieht das ganz anders aus. In Amerika spricht man nicht nur gern über finanziellen Erfolg – man zeigt ihn auch. […] Während etwa US-Bürger ungeniert über monatliche Lohnzahlungen und Gratifikationen plaudern, sehen es manche Arbeitgeber in Deutschland nicht gern, wenn Mitarbeiter über ihr Einkommen sprechen.

Wir Deutschen haben hier also das Tabu und die Amerikaner sprechen freizügig über Finanzen. Das wird hier zumindest behauptet. Mehr als eine Behauptung scheint mir das aber wirklich nicht zu sein: Die Postbank-Studie bezog sich nur auf Deutschland. Zur Situation in den USA fehlen Zahlen und Fakten.
Mindestens die Stolperstelle in meinem Roman legt ja nahe, dass auch die USA dieses Tabu kennt. Und tatsächlich: Nach einer kurzen Google-Suche finde ich das Ergebnis einer amerikanischen Studie, die auch wieder im Auftrag einer Bank durchgeführt wurde. Sie sagt: 70% der Amerikaner halten es für unhöflich oder unangebracht, persönliche Geldangelegenheiten in einem sozialen Umfeld zu diskutieren.
Da sieht man mal: Die Postbank hat schon Fake-News verbreitet, bevor es cool war.

Und viele andere Zeitungen haben das unhinterfragt weiterverbreitet. Zum Beispiel die FAZ, die schreibt:

Anders sieht es dagegen in den Vereinigten Staaten aus. Hier plauderten die Bürger ungeniert über monatliche Lohnzahlungen und Gratifikationen, hat die Postbank festgestellt. Auch über den finanziellen Erfolg spreche man jenseits des Atlantiks gern – man zeige ihn zudem.

Oder Spiegel Online, die schreiben:

Das deutsche Schweigen übers Geld ist fast ein kulturelles Alleinstellungsmerkmal. In den USA zum Beispiel sieht es komplett anders aus. Amerikaner reden oft sehr freizügig über das eigene Gehalt. Der Grund: Amerikaner glauben an die Freiheit, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen. Der amerikanische Traum wurzelt in dem Glauben, dass der Einzelne es vom Tellerwäscher zum Milliardär schaffen kann.

(Das gleiche finde ich auch im Focus-Artikel: Die wichtigsten Gründe, warum Sie nicht über Gehalt reden sollten.)

Qualitätsjournalismus.

Warum wir nicht gern über Geld reden

Eines steht fest: Über Geld zu reden ist ein Tabuthema, egal ob in den USA oder in der BRD. Aber warum? Was ist das Problem?

Dazu habe ich keine knallharten Fakten. Aber ich halte es für eine naheliegende Erklärung, dass es die Angst vor Neid und Missgunst ist, die uns Schweigen gebietet.
„Was? Du verdienst mehr als ich? Aber du sitzt doch den ganzen Tag nur rum und trinkst Kaffee! Und ich reiße mir täglich den Arsch auf!“ – Das möchte sich niemand gerne sagen lassen.
Andersherum wird es vielen auch unangenehm sein, ein mickriges Gehalt zu haben. „Arm aber sexy“ gilt vielleicht für die Hauptstadt, nicht aber für die Einzelnen. Die befürchten nämlich, dass man auf sie herab blickt.

Wer sein Gehalt offenbart, steht also vor zwei möglichen Konsequenzen: Den Neid des Anderen erwecken, oder sich schämen. Klar, dass man da lieber die Klappe hält.

Warum wir nicht über Geld reden sollten

Ich finde im Internet tatsächlich Ratgeber, die dafür argumentieren, das Tabu sei gut und richtig. Wir sollten nicht über unsere Gehälter reden. Ein Beispiel: Die Wirtschaftswoche schreibt in dem Artikel Warum Sie mit Kollegen nicht übers Gehalt reden sollten: „Gedanken an Geld vergiften die Atmosphäre“.
Das Argument funktioniert so: Eben war noch alles okay, ich war zufrieden mit meinem Job. Jetzt erfahre ich aber, dass Pflanziska mehr verdient als ich. Ich finde das ungerecht. „Plötzlich ist da eine Unzufriedenheit, die vorher überhaupt nicht da war“, schreibt die Wirtschaftswoche.
Hinter diesem Argument steht ein interessantes Verhältnis zu Wissen und Wahrheit. Aus dem Bauch heraus würden die meisten Menschen wohl sagen, mehr zu wissen sei immer besser, als Wahrheiten zu verschweigen. Das Argument der Wirtschaftswoche sagt aber: Es gibt Wahrheiten, die dich unglücklich machen, also solltest du sie vermeiden. Bleibe lieber freiwillig uninformiert, dann bleibst du auch zufrieden.

Ich weiß nicht, wie es Dir geht, aber mir schmeckt dieses Argument nicht. Das klingt für mich nach selbstverschuldeter Unmündigkeit. Das ist wie den Kopf in den Sand zu stecken.

Warum wir trotzdem über Geld reden sollten

Haben wir einmal das Tabu verinnerlicht, fällt es uns sehr viel schwerer, Geld-Themen anzusprechen, selbst wenn sie für uns wichtig sind. Zum Beispiel, wenn es um eine Gehaltserhöhung geht. Wenn es Dir unangenehm ist, das Thema Geld vor deinem Chef anzusprechen, spielt ihm das bei der Verhandlung in die Hände.

Auch wenn es darum geht, den Gender Pay Gap, das geschlechtsspezifische Lohngefälle, festzustellen und zu verhandeln, ist es hinderlich, wenn man sich nicht traut, offen über sein Gehalt zu sprechen.

Insgesamt würde eine offene, eine neid- und missgunstfreie Gesprächskultur allen zugute kommen. Allen, außer vielleicht geizigen Chefs, die sich angesichts der derzeitigen Kultur die Hände reiben und böse lachen.

Das Tabu und Dein Menschenbild

Schön und gut, magst Du jetzt denken, aber wir haben nun mal keine „neid- und missgunstfreie Gesprächskultur“. Die Befürchtung, dass ich in unangenehme Situationen gerate, wenn ich meinen Verdienst offenlege, sind ja trotzdem gerechtfertigt.

Stimmt wohl, sage ich dazu. Ich habe da auch keine gute Lösung. Aber ich möchte Dich auf eines hinweisen: Wenn Du aus diesem Grund nicht gerne über Geld redest, dann hast du ein negatives Menschenbild. Du sagst damit, dass Menschen in erster Linie egoistisch und missgünstig sind. Dagegen kann ich nicht argumentieren. Aber Du kannst auch nur eines von beidem haben: Das Unbehagen über Geld zu reden ODER ein positives Menschenbild. Für eines von beidem wirst Du Dich wohl entscheiden müssen. Und dann damit leben.

Mit einem positiveren Menschenbild argumentiert übrigens Adam Conover in seinem (englischsprachigen) Youtube-Video: Why You Should Tell Coworkers Your Salary

Conover behauptet darin, dass unsere Erwartungen, was passieren würde, wenn wir unser Gehalt öffentlich bereden würden, falsch sind. Wir würden erwarten, sowas an den Kopf geschmissen zu bekommen: „Du Arschloch! Du solltest weniger verdienen!“
Das würde aber gar nicht passieren, meint Conover. Stattdessen aber wäre es der Chef, der zu hören bekäme: „Du Arschloch! Ich sollte mehr verdienen!“

Das nur als Beispiel, dass man auch anders denken kann. Wie Du darüber denken willst, musst Du natürlich selbst wissen.

(Übrigens: Dieses Video ist von einem Amerikaner. Ein Amerikaner, der sich gegen das amerikanische Tabu stellt, nicht über Gehälter reden zu dürfen. Noch ein Indiz dafür, dass deutschen Medien komplett daneben liegen, wenn sie das für ein deutsches Phänomen halten.)

Dürfen wir über Geld reden?

Natürlich gibt es da noch die rechtliche Dimension. Manche deutsche Arbeitsverträge beinhalten eine sogenannte Verschwiegenheitsklausel, die ausdrücklich besagt, der Arbeitnehmer dürfe nicht über sein Gehalt reden.
Ich bin kein Jurist, und Du solltest mir hier nicht blind vertrauen. Meine oberflächliche Google-Recherche sagt mir zu dem Thema: Diese Klausel ist in den meisten Fällen rechtlich nicht bindend. Nur wenn das Offenlegen des Gehalts zu einer „Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit“ deines Arbeitgebers führt, darf er verlangen, dass Du schweigst. In allen anderen Fällen kannst Du nach Herzenslust mit Kollegen, Freunden, und Fremden darüber reden, für wieviele Penunzen Du Deine Arbeitskraft verhökerst.
Alles andere wäre auch Wahnsinn. Beispiel: Wohnungssuche. Gegenüber Deinem potentiellen Vermieter musst Du immer auch angeben, wieviel Du verdienst, sonst bekommst Du keinen Mietvertrag. Eine Verschwiegenheitspflicht wäre hier wirklich katastrophal.

Tierisch verboten ist es übrigens, wenn Du in der Personalabteilung arbeitest und Dein Wissen über die Gehälter Deiner Kollegen ausplaudern möchtest. In diesem Fall kommt das Datenschutzgesetz persönlich zu Dir nach Hause und zwingt Dich, Dir alle schrecklichen Datenschutz-Lieder auf Youtube bis zum Schluss anzusehen.

Schließlich gibt es seit Kurzem auch noch das Entgelttransparenzgesetz, das eine Auskunftsklausel hat, die besagt, jeder Beschäftigte dürfe die Höhe des Entgelts eines „vergleichbar arbeitenden“ Kollegen des anderen Geschlechts erfahren. Jippie, Transparenz!