Im letzten Teil dieser Reihe über die Freiheit bei Schopenhauer erfuhr ich – etwas überraschend – worum es hier überhaupt geht: Um die Frage, ob es Willensfreiheit gibt oder nicht.
Diese Frage erörterte Schopenhauer schon lange bevor NeurowissenschaftlerInnen dies zu einem Trend machten. Um die Frage nach der Freiheit des Willens klären zu können, will Schopenhauer nun den Begriff Freiheit modifizieren und etwas abstrakter fassen. Abstrakter als er das bisher getan hat. (Warum er dann nicht gleich damit anfing, frage ich lieber nicht, sonst bezichtigt er mich wieder der „Hegelei“.)

Freiheit allgemein und so

Schopenhauer bleibt dabei, den Begriff Freiheit als einen negativen zu sehen, also als einen Begriff zu dem man immer sagen muss, wovon man frei ist. Ganz allgemein und so kann man Freiheit auch als die Abwesenheit von Notwendigkeit sehen.
Notwendigkeit ist ein Wort, das Philosophen lieben. Notwendig heißt, dass etwas zwingend so ist, wie es ist, und nicht anders sein kann. Vor allem die Logik kommt ohne diesen Begriff nicht aus. Notwendigkeit ist also für die Logik notwendig.
„Jetzt hör mal auf, abzuschweifen. Und spar dir die dämlichen Witze“, fährt mich Schopenhauer mit bösem Blick an. Dann nimmt er mir das Heft aus der Hand und doziert: „Notwendig ist das, was aus einem gegebenen, zureichenden Grund folgt. Und das, was aus einem gegebenen, zureichenden Grund folgt, ist notwendig.“
Der Philosoph hebt drei Finger in die Luft und sagt: „Es gibt drei Arten von Notwendigkeit: logische, mathematische und physische. Logisch notwendig ist die Konklusion, die aus den Prämissen folgt. Mathematisch notwendig ist die Gleichheit der Seiten des Dreiecks, wenn die Winkel gleich sind. Physisch notwendig ist der Eintritt der Wirkung auf die Ursache.“
„Okay“, sage ich. „Drei Arten von Notwendigkeit. Hab ich verstanden.“
„Nein, hast du nicht“, sagt Schopenhauer, der mir wirklich unangenehm arrogant vorkommt.
„Aber was du über Notwendigkeit wissen solltest, ist das: Immer dann, wenn etwas die Folge aus einem Grund oder einer Ursache ist, dann ist das notwendig.“
„Immer?“
„Immer. Gründe sind immer zwingend. Sonst sind es keine Gründe.“
„Aber was ist, wenn-“
„Widersprich nicht und hör mir zu! Gründe verursachen ihre Folgen notwendig, oder sie verursachen sie überhaupt nicht. ‚Nur ein bisschen Ursache sein‘ gibt es nicht. Punkt. Zurück zur Freiheit: Wenn etwas zwingend hervorgerufen wird, dann ist es nicht frei.“
„Also ist Notwendigkeit Zwang. Und wo es Zwang gibt, da gibt es keine Freiheit“, fasse ich zusammen.
„Genau!“, donnert Schopenhauer. „Du verstehst ja doch was!“
Ich freue mich nicht über das Kompliment.
Schopenhauer ignoriert meine Unzufriedenheit und fährt fort: „Notwendigkeit schließt Freiheit aus. Um der Freiheit auf die Spur zu kommen, brauchen also wir das Gegenteil von Notwendigkeit. Nun, Florian, was ist das Gegenteil von notwendig?
„Kontingent?“
„Ach was, du mit deinen Fremdworten. Das ist ja schon fast hegelianisch!“
„Oh nein. Bitte nicht nochmal“, entfährt es mir. Schnell zurück zum Thema, bevor das mit Hegel wieder losgeht. „Was ist denn dann das Gegenteil von notwendig?“, frage ich.
„Na ZUFÄLLIG!“, brüllt der Philosoph triumphierend. „Zufall ist das Gegenteil von Notwendigkeit! Wenn Freiheit nun die Abwesenheit von Notwendigkeit ist, also die Unabhängigkeit von jeder Ursache, dann ist sie deckungslgeich mit dem ABSOLUT ZUFÄLLIGEN.“
„Aha“, mache ich, komme aber nicht weiter, denn Schopenhauer ist in Fahrt.
„Genau! Das absolut Zufällige ist ein problematischer Begriff, dessen Denkbarkeit ich nicht verbürge, der jedoch sonderbarer Weise mit dem der Freiheit zusammentrifft.“
Schopenhauer wuschelt sich durch den wilden Haarwuchs, der an den Seiten seines Kopfes wuchert. Dann fährt er fort: „Jedenfalls bleibt das Freie ganz allgemein das, was in keiner Beziehung notwendig ist, was also von keinem Grund abhängt.“
„Und was heißt das jetzt speziell für die Willensfreiheit?“, frage ich.
„Für die Willensfreiheit“, entgegnet Schopenhauer, „bedeutet das folgendes: Ein freier Wille darf nicht durch Gründe bestimmt sein. Er darf durch überhaupt nichts bestimmt sein. Deine willentlichen Taten müssen ganz ursprünglich aus deinem Willen selbst hervorgehen, ohne durch irgendetwas beeinflusst zu sein. Ein freier Wille wäre ein Wille, der vollkommen zufällig ist.“
„Geht das noch verständlicher, bitte?“
„Es ist ganz einfach. Wie ich schon sagte, sind Gründe immer notwendig. Wenn etwas aus einem Grund folgt, dann folgt es notwendig aus diesem Grund, das heißt, es muss genau so folgen wie es folgt und könnte nicht anders folgen.“
Von wegen ganz einfach, denke ich, bleibe aber still.
„Wenn du einen Grund für eine Handlung hast, dann musst du so handeln, wie du handelst und kannst nicht anders handeln. Du handelst notwendig so, wie du es tust. Du bist nicht frei. Dein Wille ist nicht frei. Freiheit gibt es nur da, wo es keine Notwendigkeiten gibt, also nur da, wo es keine Gründe gibt. Frei ist zufällig.“
„Darf ich versuchen, das nochmal zusammenzufassen?“, frage ich den Professor. Er bejaht.
„Wenn ich einen Grund für mein Handeln habe, dann bin ich nicht frei. Denn Gründe sind immer zwingend und wo gezwungen wird, gibt es keine Freiheit. Frei bin ich nur, wenn ich keinen Grund für mein Handeln habe, also wenn mein Wille durch Zufall bestimmt wird.“
„Ganz recht“, stimmt mir Schopenhauer zu und ergänzt: „Ein zufälliger Wille wäre ein Wille, der keine Gründe, keine Argumente, keine Emotionen, keine Motivationen, keine Bedürfnisse, nicht mal Charakterzüge, kennt.“
„Ist das dann überhaupt noch ein Wille?“, frage ich.
„Vermutlich nicht.“
„Also gibt es keine Willensfreiheit“, schließe ich.
„So scheint es“, sagt Schopenhauer mit einem selbstgefälligem Lächeln.
„Ehrlich gesagt… Ich weiß nicht, ob mich das überzeugt.“
„Das überrascht mich wenig. Die Erkenntnis, der eigene Wille sei nicht frei, kann nur Unbehagen auslösen. Denn wenn dein Wille nicht frei ist, wie bist du dann verantwortlich für deine Taten? Wie ist irgendjemand verantwortlich für die Dinge, die er tut? Den Menschen ihren freien Willen abzusprechen heißt, ihnen Eigenverantwortung abzusprechen. Das ist freilich inakzeptabel.“
„Ja, stimmt schon“, wende ich ein. „Aber was ich meinte ist, dass mich das Argument nicht so richtig überzeugt hat.“
„Das Argument?“, fragt Schopenhauer überrascht. „Das war doch nur ein Vorspiel. Ich komme doch gerade erst in Fahrt!“
„Oh! Heißt das, es geht noch weiter?“