Glaube nicht alles, was Du im Internet liest.

Albert Einstein

Der Mensch isst pro Jahr acht Spinnen im Schlaf.
Das hat eine Studie ergeben. Nehme ich an. Sonst würde das doch nicht jeder behaupten… Oder??

Aber wie, frage ich mich, hat diese Studie ausgesehen?
Wurden Probanden ins schlecht geputzte Schlaflabor geschickt? Wurde vorher auch sichergestellt, dass genügend Spinnen im Labor sind?
Wurden signifikant viele Menschen jede Nacht für ein Jahr in ihren eigenen Wohnungen gefilmt?
Wenn ja: Wer hat das finanziert? Wem ist diese Information genug Geld wert, um eine aufwändige Studie durchzuführen?
Bestimmt niemandem. Also ist das vielleicht das Abfallprodukt einer anderen Studie? Menschen wurden aus anderen Gründen im Schlaf beobachtet und die Wissenschaftler haben sich einen Spaß daraus gemacht, zu zählen, wieviele Spinnen den Probanden in den Mund klettern…
Aber wie muss ich mir das Spinnen-Essen eigentlich vorstellen?
Seilt die sich direkt über mir ab und landet dann in meinem Mund, umgeht irgendwie meinen Würgereflex und löst ausversehen den Schluckreflex aus? Und zwar jedes Mal? Müsste die Spinne nicht wenigstens manchmal stattdessen den Würgereflex auslösen? Würde ich davon nicht aufwachen?
Anderer Gedanke: Ich schlafe doch nicht die ganze Zeit mit offenem Mund. Selbst wenn ich das nur manchmal mache, gibt es keinen Grund, zu vermuten, dass die Spinnen sich nur dann über meinem Mund abseilen, wenn er offen ist. Habe ich also regelmäßig Spinnen, die in meinem Gesicht herumklettern? Ohne jemals davon aufzuwachen? Sind das Ninja-Spinnen?
Und betrifft das nur Rückenschläfer, oder auch Seitenschläfer? Würde ich als solcher nicht mit vollgesabbertem Kopfkissen aufwachen, wenn ich mit offenem Mund schliefe?
Außerdem habe ich wirklich große Probleme damit, mir vorzustellen, eine Spinne, die durch meinen Mund klettert (statt sich direkt in meinen Rachen abzuseilen), würde von mir unbemerkt bleiben. Der gesamte Mundbereich – Lippen, Zunge, etc. – ist doch extrem sensibel.

Ich halte fest: Ich habe zu diesem Thema Fragen. Viele Fragen.

Kurzerhand mache ich mich auf die Suche nach dieser ominösen Studie.

„Spinnen im Schlaf essen“ googeln

Eine kurze Google-Suche später finde ich dutzende Artikel mit so verräterischen Titeln wie: Stimmt dieses Gerücht: Essen wir Spinnen im Schlaf? | FOCUS.de
Die Autorin würde sicherlich nicht so fragen, wenn die Antwort „Ja“ wäre.
Und tatsächlich: Es stellt sich schnell heraus, dass es keine Studie gibt, die den Spinnen-Mythos belegt.
Jahrelang habe ich fälschlich geglaubt, ich könne meinen Proteinbedarf durch ein kleines Nickerchen decken. Kein Wunder, dass mein Bizeps nicht größer wird!

Ich bin stinksauer. Wer denkt sich denn immer diese gemeinen Geschichten aus, die jeder glaubt und ungeprüft weitererzählt? Wer erzählt denn so einen Müll?

Fakten-Suche: Die Wurzel des Übels

Die meisten Artikel, die den Spinnen-Mythos entlarven als das, was er ist (Unsinn nämlich), verweisen zunächst auf die amerikanische Webiste snopes.com. Diese Seite besteht aus einer großen Sammlung urbaner Legenden. Die Sammlung hat allerdings nicht das Ziel, die Mythen zu verbreiten, sondern über sie aufzuklären. Es ist eine Seite, die Fakten sammelt – und als solche wird sie offenbar regelmäßig von der Presse zitiert und hat einige Preise gewonnen. Gefällt mir.

Hier finde ich tatsächlich auch einen Artikel über das nächtliche Verschlucken von Spinnen. Die spannendste Stelle übersetze ich mal:

Wie ist also diese Behauptung entstanden? In einem Artikel von PC Professional aus dem Jahr 1993 schrieb die Kolumnistin Lisa Holst über die allgegenwärtigen Listen von „Fakten“, die per E-Mail kursierten und wie bereitwillig sie von leichtgläubigen Empfängern als wahr akzeptiert wurden. Um ihren Standpunkt zu demonstrieren, bot Holst ihre eigene erfundene Liste von ebenso lächerlichen „Fakten“ an, darunter die oben zitierte Statistik über das Verschlucken von acht Spinnen pro Jahr durch den Durchschnittsmenschen, die sie aus einer Sammlung gängiger Irrglauben entnahm, die 1954 in einem Buch über Insektenfolklore abgedruckt wurde. In einer köstlichen Ironie hat Holsts Verbreitung dieser falschen „Tatsache“ dazu geführt, dass sie zu einem der am weitesten verbreiteten Bits von Fehlinformationen im Internet geworden ist.

Das ganze ist eine Ente. Eine Ente, die das Ziel hatte, auf Enten aufmerksam zu machen. Finde ich witzig. Sofort löst sich meine Wut in Wohlgefallen auf.
Ich möchte wissen, wer Lisa Holst ist, und was für lächerliche Fakten sie sich noch so erdacht hat. Also frage ich wieder Google.
Und das Ergebnis, naja…

Spinnen im Schlaf schlucken: Eine unerwartete Wendung

Offenbar bin ich nicht der Erste, der sich nach Lisa Holst und dem Magazin „PC Professional“ erkundigt.
Das Internet sucht bereits nach der Kolumnistin. „Wer ist Lisa Holst?„, lautet zum Beispiel ein vieldiskutierter Reddit-Beitrag. Auch der Titel des Youtube-Videos „Looking for Lisa Holst“ lässt mich Übles erahnen. Tatsächlich: Niemand hat sie aufspüren können. Niemand fand die entsprechende Ausgabe von PC Professional. Mehr noch: In den USA existiert so ein Magazin nicht – hat es auch nie. Die einzige Spur: Es gab wohl mal eine deutsche Zeitung namens „PC Professionell„. Aber auch das ist eine Sackgasse. Hier hat eine Lisa Holst nie veröffentlicht, behaupten fleißige Internet-Rechercheure herausgefunden zu haben.

Fakten-Fazit: οἶδα οὐκ εἰδώς

Zurück zu snopes.com. Haben die sich Lisa Holst nur ausgedacht? Scheint so.
Auf Fragen hierzu antwortet snopes jedoch nicht. Das berichten jedenfalls einige Internet-Rechercheure, die snopes angeschrieben haben.
Offenbar hat snopes selbst also eine Ente verbreitet; offenbar ist die Holst-Ente selbst eine Ente. Eine Entenente.
Okay. Chapeau, snopes.com. Da habt ihr schön bebildert, dass man im Internet niemandem unhinterfragt Vertrauen darf.

Leider heißt das aber, dass immer noch niemand weiß, woher das unsägliche Gerücht um den nächtlichen Spinnen-Verzehr kommt. Dass es aber ein Gerücht ist, lässt sich kaum noch abstreiten.

PS: Ein kritischer Blick auf snopes?

Diesen Artikel kann ich nicht beenden, ohne auf ein Netzfundstück aufmerksam gemacht zu haben: Die großartige Webcomic-Reihe xkcd hat auch einen Comic über snopes gemacht.
Damit auch alle in den Genuss des Inhalts kommen können, hier eine schnelle Übersetzung:

„Noch eine urbane Legende? Du solltest erst snopes checken, bevor du mir so ein Zeug schickst.“
„Upps, ja.“
„Man, snopes ist wirklich großartig – unabhängige Fakten-Prüfer, die unseren kollektiven Diskurs durchstreifen und Fehlinformationen herausfiltern.“
„Naja, aber sie haben auch ihre dunkle Seite. Das Pärchen, das snopes.com betreibt, betreibt auch ein Netzwerk von Spam-Servern, die viele dieser weitergeleiteten Stories überhaupt erst starten und so sicherstellen, dass sie immer Geschäfte machen können.“
„Das ist absurd. Außerdem ist das definitiv nicht wahr – dieses Gerücht wurde widerlegt von…“
„Ja?“
„…oh mein Gott.“

Abschlussfragen für den Deutschunterricht: Worum geht es dem Autor in diesem Comic? Und welche Quelle findest Du für dieses neue Gerücht?