Wann ist Unehrlichkeit erlaubt?

Ehrlichkeit gilt als eine Tugend. Trotzdem glaubt kaum jemand, dass es gut wäre, wenn jeder immer die Wahrheit sagen würde.
Wir Knallköpfe von der freedom manufaktur haben uns der Ehrlichkeit verpflichtet, indem wir sie zu einem unserer Grundwerte machten. Müssen aber selbst wir zugeben, dass es Situationen gibt, in denen man besser unehrlich ist?

Ich mache mich auf die Suche nach Beschreibungen von Situationen, in denen ich zu einer Notlüge raten würde.

Ehrlichkeit und Taktgefühl – Ein hartnäckiger Irrtum

Eine kurze Google-Suche später habe ich bereits mehrere Internet-Ratgeber gefunden, die dafür argumentieren, Ehrlichkeit sei manchmal unangebracht. Dabei stoße ich immer wieder auf eine grundlegende Verwechslung. Zum Beispiel im Welt-Artikel: Wer immer ehrlich ist gefährdet die Liebe.

„Die Forderung nach hundertprozentiger Offenheit und Ehrlichkeit ist einer der Hauptirrtümer über die Liebe“, sagt Dorothee Döring, Paarberaterin aus Kaarst in Nordrhein-Westfalen. „Und völlige Ehrlichkeit ist weder möglich noch erstrebenswert.“ Denn oft sei es besser für die Beziehung, wenn die Partner ihre Meinung für sich behalten – Männer zum Beispiel, wenn die Freundin fragt, ob ihr Po in der neuen Jeans dick aussieht. Eine kleine Notlüge kommt deutlich besser an. Frauen sollten besser diplomatisch antworten, wenn der Ehemann sich nach den Liebhaberqualitäten des Ex erkundigt.

Der Autor behauptet hier folgendes: Völlige Ehrlichkeit ist nicht gut, weil es manchmal besser ist, seine Meinung für sich zu behalten. Damit behauptet der Autor aber auch: Wer völlig ehrlich ist, der behält seine Meinung nicht für sich.
Das ist einfach falsch.
In den Köpfen vieler hält sich beharrlich die Vorstellung, ein durchweg ehrlicher Mensch sei ein Mensch, der unsensibel ist. Dabei liegt doch auf der Hand, dass Ehrlichkeit nicht bedeutet, alles zu sagen, was einem in den Sinn kommt. Nur weil ich eine Meinung über jemanden habe, muss ich ihm doch nicht ungefragt diese Meinung mitteilen.
Wenn ein Chef seiner Mitarbeiterin sagt: „Du hast aber einen geilen Arsch“, dann kann er sich nicht damit herausreden, die Ehrlichkeit gebiete ihm, seine Meinung kund zu tun. Wenn er stattdessen gar nichts gesagt hätte, hätte ihm schließlich auch niemand vorgeworfen, unehrlich zu sein.

Ehrlichkeit bedeutet übrigens auch nicht, jedem Menschen jede Frage zu beantworten. Es bedeutet nur: Wenn ich etwas sage, dann sage ich die Wahrheit. Keinesfalls aber bin ich verpflichtet, mein Leben und meine Gedanken jedem offenzulegen, der sich danach erkundigt. „Das geht dich überhaupt nichts an“, ist eine Antwort, die auch ehrlichen Menschen offensteht.

Dicke Hintern und Liebhaberqualitäten – Situationen der Unehrlichkeit

Der Artikel oben gibt gleich zwei Situationen mit, in denen der Autor Unehrlichkeit für angebracht hält. Nämlich die Frage nach dem Hintern und die Frage nach den Liebhaberqualitäten des Ex. Zeit, sich diese Situationen mal genauer anzuschauen.

Die Welt empfiehlt: Wenn die Freundin ihren Freund fragt, „ob ihr Po in der neuen Jeans dick aussieht“, dann ist eine kleine Notlüge angeraten.
Mal abgesehen davon, dass das ein furchtbares Klischee ist, halte ich die zugrundeliegende Einstellung für ein Unding. Wenn mir jemand eine Frage stellt, aber keine ehrliche Antwort will… Wie in Dreiteufelsnamen kann es sein, dass das plötzlich mein Problem ist? Was ist falsch mit dir, westliche Kultur, dass du mir die Verantwortung für diese Situation zuschiebst?
Das passiert ja nicht nur in dieser Mario-Barth-Klischee-Situation. Auch die Frage nach den Liebhaberqualitäten des Ex schlägt in dieselbe Kerbe. Und auch hier gilt: Das Problem ist die Frage, nicht die Antwort. Frage sowas nicht, wenn du mit der Antwort nicht umgehen kannst.

So viel zum Welt-Artikel. Ich ziehe aus ihm folgenden Schluss: Wir brauchen keine Ratgeber darüber, wie man sensibel auf solche Fragen antwortet, sondern wie man sie gar nicht erst stellt. Oder jedenfalls nur dann, wenn man an einer ehrlichen Antwort interessiert ist.

Die Grenze der Ehrlichkeit – Lügen im Beruf

In den meisten Fällen finde ich es leicht, dafür zu argumentieren, dass Ehrlichkeit angebracht ist. Es ist schwierig, mich von der Notwendigkeit einer Notlüge zu überzeugen. Aber nach einiger Suche abseits von Google stoße ich auf ein paar Situationen, in denen ich ratlos bin.

Eine Freundin von mir arbeitet im Customer Service. Ihre Dienstanweisung ist, Kunden gegenüber in bestimmten Fällen unehrlich zu sein. Was soll ich ihr nun zum Thema Ehrlichkeit sagen? Offensichtlich kann ich ihr nicht guten Gewissens raten, trotzdem ehrlich zu den Kunden zu sein. Klar kann ich mich auch über ihren Arbeitgeber aufregen, der soetwas anweist. Aber das wird ihr kaum helfen.
Ich selbst habe das große Glück, in einer Firma zu arbeiten, die Ehrlichkeit nicht nur toleriert, sondern aktiv fordert. Aber ich weiß natürlich, dass das nicht selbstverständlich ist. Im Gegenteil, es ist extrem selten. Wenn also dein Arbeitgeber von dir fordert, unehrlich zu sein, dann scheint mir das eine Situation zu sein, in der es besser ist, dem nachzukommen. Du hast natürlich immer die Wahl, deinen Job zu kündigen, aber mal ehrlich: Die Wahrscheinlichkeit, einen Job zu finden, in dem du immer ehrlich sein darfst, ist nicht sehr groß.

Hey, aber wenn dir Ehrlichkeit ein sehr großes Anliegen ist, kannst du uns immer gerne eine Notiz dalassen. Vielleicht passt du ja zu uns. Bewerbungen jeder Zeit an:

Apropos Bewerbungen. Die sind auch ein echtes Minenfeld.
Wenn du auf Jobsuche bist, gibt es zwei Möglichkeiten
a) Du versuchst es bei der freedom manufaktur
b) Du versuchst es nicht bei der freedom manufaktur

Im Falle a rate ich dir nachdrücklich davon ab, deinen Lebenslauf künstlich aufzuplustern. Auch im Kennenlerngespräch solltest du durch Aufrichtigkeit glänzen. (Dafür muss deine Bewerbung aber auch nicht formal perfekt sein. Wir sind neugierig auf Menschen, nicht auf Lebensläufe oder Formalien.)
Im Falle b hingegen rate ich dir, es mit der Ehrlichkeit nicht zu genau zu nehmen. Das ist nämlich das, was von dir erwartet wird – und diese Erwartung zu enttäuschen, wird nicht dazu führen, dass du einen guten Eindruck erweckst. Klar solltest du auch hier nicht einfach Lügen, denn das rächt sich schnell. Zu behaupten, du würdest fließend Englisch sprechen, wenn das gar nicht stimmt, kann schnell auffliegen. Etwa wenn du aufgefordert wirst, mit einem Kunden aus Amerika zu telefonieren. Aber ein bisschen zu flunkern, die Realität etwas zu beugen oder aufzubauschen, das gehört – leider – zum guten Ton.

Natürlich finde ich diese Kultur pervers: Stellenausschreiber erwarten von den Berwerbern, unehrlich zu sein. Die besten Chancen hat, wer am kreativsten die Wahrheit beugt. Das ist total bekloppt. Aber solange sich das nicht ändert, muss ich wohl auch hier von meinem hohen Ross herunter und zugeben, dass dies eine Situation ist, in der ich dir dazu rate, beim Thema Ehrlichkeit ein Auge zuzudrücken.
(Ich hoffe nur, die Kollegen sind schon vorher bei der Lektüre dieses Blogartikels ausgestiegen, sonst werde ich nachher mit Legosteinen gesteinigt.)