Mein Feuerball versengte den Werwolf. Er verlor mit einem Schlag 80% seiner Lebensenergie. Ein zweiter Feuerball würde ihn komplett einäschern, doch dafür hatte ich nicht mehr genug Mana-Energie. Mir blieb nur mein schartiges Schwert, um das Biest anzugreifen. Ich aktivierte die Rune der Kraft, die ich an meinem Schild angebracht hatte, und erhielt sofort +10 auf Stärke und Gewandheit. Ich legte alle meine Kraft in die Attacke.
Kritischer Treffer. Schaden x 10., erschien eine Meldung am Rande meines Sichtfeldes.
Was für ein Glück! Der Werwolf verlor nun auch die letzten 20% seiner Lebensenergie. Sein lebloser Körper fiel vor mir auf den Boden, wo er anfing, sich aufzulösen.
Wolfsmensch (Level 21) besiegt. +30 Erfahrungspunkte.
Quest Update: Töte den Werwolf von Vendigroth. Quest abgeschlossen +50 Erfahrungspunkte.
Stufenaufstieg!

Was Du da gerade gelesen hast, ist kein Bericht meiner letzten Runde WoW, sondern eine Szene, wie man sie in einer bestimmten Sorte Roman lesen kann.
Die Chance steht hoch, dass Du noch nie von dieser Sorte Roman gehört hast. Denn sie ist neu. Es gibt sie erst seit ein paar Jahren (ich glaube seit 2013/14), hauptsächlich auf dem englisch- und russischsprachigen Markt. Die Rede ist von der modernen Textgattung litRPGs.
Und die macht ziemlich viel Spaß. Und süchtig.

Level 1: Was ist litRPG?

Das Wort litRPG ist ein Kürzel für „literary Roleplaying-Game“, zu Deutsch etwa: literarisches Rollenspiel. – Das weckt vielleicht falsche Erwartungen. Früher gab es Spiele-Bücher, die man auch so hätte bezeichnen können. Bei denen „spielte“ man den Protagonisten und durfte entscheiden, was dieser tat. Das sah dann ungefähr so aus:
„Möchtest Du den Werwolf angreifen (23), versuchen, mit ihm zu reden (45) oder schnell weglaufen (27)? Du kannst auch einfach nur dastehen und abwarten. In diesem Fall lies bei Abschnitt 33 weiter.“
litRPG funktioniert anders – hier spielen nicht die Leser, sondern die Protagonisten. litRPG sind richtige Romane. Was sie auszeichnet, ist, dass sie das Thema Computerspiele auf eine neue Art behandeln. Hier tauchen auf: Werte, Zahlen, Sonderfertigkeiten, komplette Charakterbögen, Tabellen, System-Benachrichtigungen, Fehler, Fehler, Neustart, Support anrufen.
Okay, letzteres habe ich noch nie gelesen, aber warum nicht? Alles ist möglich! Schließlich ist das ein bisher unerschlossenes Land.

In den meisten litRPG-Geschichten ist den Protagonisten völlig klar, dass sie sich in einem Spiel befinden. Sie erfüllen Quests, werden stärker, finden magische Waffen, kämpfen gegen andere Spieler, sterben, verlieren ihre magischen Waffen, fangen von vorne an, kämpfen gegen andere Spieler, siegen, erhalten noch mehr magische Waffen, werden noch stärker… und das alles in einer großen Rahmenhandlung, die alles umfasst von: Gefangen in einer virtuellen Realität, über: Du hast 30 Tage Zeit, in der virtuellen Realität 1000 Gold zu verdienen, sonst töten wir Deine Familie, bis hin zu: Die Welt ist kaputt, überall Wüste und Mutanten, das Leben ist furchtbar, und alles, was wir haben, um es erträglich zu machen, ist dieses virtuelle Spiel.
Oder halt jede andere Idee, die rechtfertigt, warum wir jetzt ein Computerspiel spielen. Es muss nichtmal virtuell sein, auch Augmented-Realtity-litRPG habe ich gelesen (=mit Google Glasses durch’s Leben laufen und virtuelle Elemente auf die Wirklichkeit draufprojiziert bekommen). Die Möglichkeiten sind vielfältig. Und zu großen Teilen noch nicht beschrieben.
Was litRPGs im Kern ausmacht, ist, dass Computer-Rollenspiele ein wesentlicher Teil der Geschichte sind, und dass die Spielstatistiken miterzählt werden.
Das exakte Genre dieser Literaturgattung kann alles sein, was auch als Computer-Rollenspiel vorstellbar ist: Klassische Fantasy, Science-Fiction, Horror, postapokalyptische Szenarien, Western, Cyberpunk, Steampunk, Punkpunk, Junkpunk oder whooshpunk. (Okay, einige der Genres habe ich mir gerade ausgedacht.)

Level 2: Was ist an litRPG so toll?

Fortschritt. Das ist es, in einem Wort, was litRPGs zu einem Lesevergnügen macht. Wer Rollenspiele kennt, wird schnell verstehen, was ich meine. In einem Rollenspiel macht man ständig Fortschritte. Man steigert die Fähigkeiten seines Charakters, bekommt bessere Rüstungen oder Waffen, teilt mehr und mehr Schaden aus. Etwas zynisch gesagt lassen sich Rollenspiele auf einen Satz runterbrechen: Die Zahlen werden immer größer. – Hast Du anfangs noch drei Punkte Schaden ausgeteilt, sind es am Ende 3000. Und das, ohne dass Du selbst hinzulernen musstest. Du musst nicht Deine Hand-Augen-Koordination trainieren, Du musst Dir nicht – wie etwa bei alten Nintendo-Spielen – das Level-Design einprägen, bis Du nach unzähligen Wiederholungen ganz genau weißt, wann Du springen und wann Du Dich ducken musst. Dein Charakter wird besser, ohne dass Du selbst es wirst. Besonders belohnend dabei: Es gibt nur Fortschritt. Anders als im echten Leben verlernst Du keine Fähigkeiten, wenn Du sie länger nicht benutzt. Stattdessen geht es immer nur bergauf, die Zahlen werden größer und größer – das befriedigt irgendein neurotisches Bedürfnis, macht schnell süchtig und sehr, sehr viel Spaß.
Tja, und das gilt nun nicht nur für Spiele, die Du selbst spielst. Dieses Glücksgefühl, wenn wieder ein Fortschritt erreicht wurde, kannst Du auch bekommen, wenn Du jemandem beim Spielen zusiehst. Oder wenn Du ihm eben zuliest. – litRPG befriedigen dieselbe Sucht wie Computerrollenspiele.
Ich finde das großartig, denn es ist etwas, von dem mir nicht klar war, dass Bücher soetwas überhaupt können.
Und hier komme ich direkt zum zweiten Punkt, warum litRPG toll sind:
Sie sind wirklich ein NEUES Genre. Mein literaturwissenschaftliches Herz schlägt höher, wenn ich daran denke, dass ein paar Nerds etwas gelungen ist, was die großen Literaten unserer Zeit schon lange nicht mehr geschafft haben: Sie fügten der Literatur neue Elemente hinzu, die sie bereichern. Die Literatur stieg dadurch eine Stufe auf. Mehr dazu im nächsten Level.

Level 3: Fortschritt durch Grenzen

Abseits vom Sucht-Faktor, den litRPG haben, bringen sie etwas auf den Tisch, das ich gerne auch in anderen Romanen sehen würde. Ich rede von klaren, eindeutigen Grenzen. – „Huch, Florian, seit wann machst Du dich denn für knallharte Grenzen stark?“ – Aufgepasst:
Der größte Spannungskiller in Romanen, Filmen, Erzählungen ist die Beliebigkeit. Wenn die Regeln der erzählten Welt nicht klar sind, dann hat zwar der Autor viel Freiheit, aber die Spannung geht flöten.
Wenn Harry Potter in eine brenzlige Situation schlittert, entsteht für die Leser Spannung, weil sie wissen, welche Zaubersprüche Harry gelernt hat. Aus diesem Zauberspruch-Fundus kann sich Harry nun bedienen und versuchen, einen Ausweg zu finden – und die Leser können mitfiebern und mit-überlegen, was Harry nun helfen würde. – Die Grenzen von Harrys Wissen erzeugen hier die Spannung.
Nun stellen wir uns vor, diese Grenzen wären schwammiger. Die Leser hätten im Verlauf der Geschichte nicht erfahren, was Harry genau kann. Jetzt fällt er von einer Klippe, stürzt tiefer und tiefer… und vielleicht hat er einen Flug-Zauber gelernt, vielleicht auch nicht, das weiß die Leserin nicht, das weiß nur die Autorin. Diese entscheidet sich jetzt, dass Harry keinen Flugzauber, aber einen Teleportationszauber gelernt hat. Für die Leserin ist diese Autorinnen-Entscheidung völlig beliebig. Wie soll man da mitfiebern?
Soetwas meine ich, wenn ich von Grenzen spreche. Nur wenn ich ungefähr weiß, was in einer erzählten Welt möglich ist und was nicht, kann ich mich in diese Welt reindenken und reinfühlen. Nur so kann ich richtig mitfiebern mich wundern (zusammen mit den Hauptfiguren), wenn diese Grenzen plötzlich gesprengt werden.
Wenn ich Dir erzählte, dass Karl-Heinz Hackfleisch, der Held meines nie geschriebenen Romans: „Der Lümmel aus dem Teich“, noch genau 1,30€ in der Geldbörse hat, dann kannst Du mitfiebern, wenn er dringend einen Kaffee möchte, aber im ICE sitzt, wo der Kaffee 2,50€ kostet. Weniger mitfiebern kannst Du, wenn ich dies schwammiger gehalten hätte. „Kalle hatte nur noch wenig Geld und konnte sich deshalb den Kaffee nicht leisten“, gibt Dir weniger Möglichkeiten, Dich in die Situation einzufinden, Dich zu identifizieren und mitzuleiden.
Und hier kommen die litRPG ins Spiel. Was sie der Literatur Neues bringen, sind nicht nur die Stufenaufstiege, sondern die knallharten Zahlen, die festgeschriebenen Werte und Regel-Mechanismen.
Wenn ich weiß, dass der Protagonist nur noch 10 Lebenspunkte hat, und wenn ich weiß, dass der Gegner mit einem Treffer 12 Punkte Schaden machen würde, nimmt mich das ganz anders mit, als wenn ich nur zu lesen bekäme: „Kalle hatte nicht mehr viele Lebenspunkte, ein Schlag und er wäre tot.“ – Hier ist der Leser darauf angewiesen, dem Autor zu glauben. Und dieser kann sich ganz leicht herauswuseln, indem ein weiterer Treffer dann halt doch nicht den Tod bedeutet. Aus den harten Zahlen hingegen kann sich der Autor nicht so einfach rausmogeln.
Remumée: litRPG bieten mit ihren Zahlen und eindeutigen Regel-Mechanismen eine neue Art, in einer Erzählung klare Grenzen zu setzen. Klare Grenzen verhindern (in einer Erzählung) Beliebigkeit. Beliebigkeit verhindert Spannung.

Wie wunderbar wäre es, wenn sich die Schreiber von litRPG dieser Stärke bewusst wären und daraus das Beste herausholten! Aber die Schreiberschaft besteht zu einem Großteil aus Amateuren (noch!) – und die leisten sich mitunter einige Stil-Blüten, bei denen ich so stark den Kopf schüttele, dass mir eine Gehirnerschütterung droht.
Ja, litRPG haben auch Schattenseiten.

Level 4: Die Schattenseiten von litRPG

Abgesehen davon, dass oft nicht das volle Potential ausgeschöpft wird, das das Genre bietet, krankt die neue Text-Gattung auch an vielen anderen Stellen. Unerfahrene Autoren sind dabei das größte Problem. Positiv gewendet, lässt sich sagen, litRPG seien „von Fans für Fans“. Das ist toll, denn ich spüre oft die Begeisterung der Autoren. Begeisterung ist aber leider nicht alles und viele der Autoren haben keine Ahnung, wie man eine Geschichte erzählt. Als Leser watet man also durch ein Meer aus Unrat, aus dem man mit langem Atem einige Perlen fischen kann.
Tja, sie steckt halt noch in den Kinder-Schuhen, diese Text-Gattung. Ich fühle mich verpflichtet, auf diese Schattenseiten hinzuweisen, damit niemand denkt: „Was ist denn das für ein Müll, den Florian da empfiehlt?!“

a) fehlendes Lektorat

Rechtschreibfehler, Zeichensetzungsfehler, fragwürdige Grammatik, schauderliche Stilblüten – um soetwas zu vermeiden, braucht man entweder einen erfahrenen Autoren oder einen professionellen Lektor (oder, besser noch, beides). litRPG verfügen meistens über nichts davon. Deshalb brauchen Sprachliebhaber einen starken Magen für dieses junge Genre.

b) flache Charaktere

Selten habe ich so eindimensionale, profillose Charaktere präsentiert bekommen wie in litRPG-Büchern. Viele der Autoren konzentrieren zu sehr auf den Spiel-Aspekt ihrer erzählten Welt und vergessen, dass Charaktere der Dreh- und Angelpunkt jeder guten Erzählung sind.

c) Sexismus

Alter Schwede, das Frauenbild vieler Nerds stammt aus den Fünfzigern. Viele der Bücher halten für Frauen exakt zwei Rollen bereit:

  • Die gutaussehende Frau (ohne jede weitere Eigenschaft)
  • Die mütterliche Mutter-Figur

Man hält es kaum für möglich, die Frauen-Charaktere sind meist noch flacher als die Männer-Charaktere! Das einzige, was an ihnen nicht flach ist, sind die ausführlich beschriebenen Rundungen. Die schönen Frauen werden erobert oder gerettet, die mütterlichen Frauen geben weise Ratschläge oder teilen Backpfeifen aus. Mehr ist nicht. Aber da geht noch was!

d) zu neu für Deutschland

Ohne Fremdsprachenkenntnisse wirst Du es vorerst schwer haben, Dich diesem Genre zu nähern. Ich selbst kenne keinen litRPG-Roman aus deutscher Feder. Auch Übersetzungen sind mir nicht bekannt. (Eine Ausnahme, zu der komme ich gleich.)
Englisch- oder Russisch-Kenntnisse sind hier gefragt. Richtig gelesen: Russland ist die Heimat der litRPG-Romane. Hier wurde übrigens auch der Name „literary RPG“ geprägt, der in den Ohren von englischen Muttersprachlern etwas hölzern klingt.
litRPGs sind in Russland und Amerika spätestens seit 2014 ein Ding. Dass sie noch nicht den deutschen Markt erreicht haben, verstehe ich nicht. Das wird sich hoffentlich demnächst ändern.

Level 5: Empfiehl mir was, Florian

Damit Du keinen schlechten Start mit diesem Genre hast, gebe ich Dir gerne ein paar Empfehlungen an die Hand.

Ready Player One – von Ernest Cline

Kommt Dir bekannt vor? Kann gut sein, denn dieses Buch wurde kürzlich verfilmt.
Ob Ready Player One wirklich zum Genre litRPG zählt, ist umstritten. Ich beginne diese Liste aber trotzdem damit, denn:

  1. Es ist sehr gut. litRPG oder nicht: Dieses Buch macht Spaß, wenn man in den 80ern aufgewachsen ist und gerne gezockt hat. Dystopie trifft Nostalgie – und die Charaktere sind auch nett gezeichnet.
  2. Da der Roman sehr erfolgreich ist, wurde er ins Deutsche übersetzt. Wenn Du also einen Hauch litRPG schnuppern willst, ran an den Speck!

Achso, Du wunderst Dich vielleicht, wieso der Status als litRPG umstritten ist. Das liegt unter anderem daran, dass einige typische litRPG-Elemente hier etwas kürzer kommen als es in diesem Genre die Norm ist. Die ganzen Spiel-Elemente wie Stufen-Aufstiege, Werte, Zahlen, sind durchaus da, aber eben nicht sehr prominent. Daher fühlt sich Ready Player One für viele wie die light-Version von litRPG an. Mit anderen Worten: Eine hervorragende Einstiegsdroge!

Ascend Online – von Luke Chmilenko

Ein Bilderbuch-Beispiel für ein großartiges litRPG. Die Charaktere sind, naja, gut genug. Auf jeden Fall macht es unglaublich Spaß, mitzuverfolgen, wie sich der Protagonist Marcus in der virtuellen Welt von Ascend Online schlägt. Vorsicht: Sucht-Potential!

Profi-Tipp: Als Hörbuch ist Ascend Online der Knüller, denn hier spricht der Hörbuch-Virtuose Luke Daniels. Deine Ohren werden Dir für immer dankbar sein!

Dominion of Blades – von Matt Dinniman

Echte, dreidimensionale Charaktere und keine Spur misogyner Klischees weit und breit – so wünsche ich mir meine Romane. Und genau das liefert Matt Dinniman. In keinem anderen litRPG fand ich bisher derart interessante Figuren. Allein wegen ihnen lohnt diese Buch-Reihe.

AlterGame Series – von Andrew Novak

Bumm. Die Welt ist kaputt. Alles Wüste, alles im Eimer, täglich kämpfst Du ums Überleben, Abends lenkst Du Dich ab mit dem letzten Stück Technologie, das aus der alten Zeit geblieben ist: Die virtuelle Welt Alterra.
Hier trifft litRPG auf Post-Apokalypse (à la Mad Max / Fallout / S.T.A.L.K.E.R.*). So eine spannende Welt, so eine mitreißende Story findet man nur selten. Mich hat diese Geschichte so sehr begeistert, dass ich sogar über die grauenhafte Übersetzung aus dem Russischen hinwegsehen konnte.

(*Andrew Novak hat das Computerspiel S.T.A.L.K.E.R. mitentwickelt.)

Level 6: Jetzt bist Du gefragt!

Worauf wartest Du? Verlasse diesen Blog und hol Dir einen litRPG-Roman Deiner Wahl.

Du magst gar keine Computerspiele?

Du liest nicht gerne Bücher?

Wie bist Du dann ans Ende dieses viel zu langen Blog-Beitrags gelangt?

 

Frau bereitet sich auf litRPG vor.
litRPG: Eine bessere Gelegenheit, Deine Englischkenntnisse aufzufrischen, kommt so schnell nicht mehr.

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