Schlechte Qualität? Das geht schon mal gar nicht!

Als gute deutsche Staatsbürger sind Perfektionismus und Qualität „Made in Germany“ ein hohes Gut und bei vielen weit oben im eigenen Wertesystem fest verankert. So ist dies auch bei mir. Dennoch proklamiere ich hier die schnelle schlechte Qualität als Arbeits- und Stilmittel. Warum? Nun, meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass schnelle schlechte Qualität (ssQ) am Ende die besseren Ergebnisse liefert. Nun gibt es Bereiche, in denen ssQ mit Sicherheit unangebracht ist: In der Chirurgie, beim Bau von Atomkraftwerken oder Flugzeugen, bei Gerichtsverhandlungen oder Vertragsabschlüssen. Also bei allen Gebieten in denen Menschenleben in Gefahr sind, oder wo eine sorgsame Abwägung des Für und Wider notwendig ist und die Entscheidung final, also endgültig ist. Aber in allen anderen Fällen ist meines Erachtens nach ssQ das Mittel der Wahl.

Ich möchte Dir gerne meine Beweggründe und Erfahrungen erläutern. Warum ist ssQ sinnvoll?

  1. Die Angst vor dem weißen Blatt
    Die meisten Menschen, die ich kenne, erstarren regelrecht vor einem leeren Blatt. Es stellt sich die Frage: „Wo, womit und wie soll ich beginnen?“. Ich kenne dieses Gefühl noch gut aus der Schule im Deutschunterricht. „Bitte schreibt einen Aufsatz über …“ hieß es da und dann saß ich da. Geschichten sponnen sich in meinem Kopf zusammen, wurden entwickelt und wieder verworfen – nicht gut genug. Lieber anders. Wieder ein neues Konstrukt. Wieder und wieder. Doch das Blatt blieb weiß. Sobald ich jedoch den ersten Satz auf das Papier brachte, war es, als hätte jemand den Korken aus einer Flasche gezogen. Die Geschichte, der Aufsatz floss quasi vom Gehirn über Hand und Stift auf das Papier – und heute als vHiT (vom Hirn ins Terminal) mittels Tastatur in den Rechner. So wie auch dieser Blogartikel gerade entsteht.
    Ich kenne das aus vielen Bereichen. Software Entwickler die bei NULL anfangen können sind eher rar gesät. Auch hier gilt – womit beginne ich? Menschen, die kreativ sein sollen, sitzen vor einer Aufgabe und erstarren. Ich führe mit guten Freunden seit über dreißig Jahren jedes Jahr eine Seminarfahrt über Himmelfahrt durch. Auch hier beobachte ich jedes Mal diesen Effekt. Die Zeit, die wir benötigen, bis das erste zu Papier kommt, dauert ewig. Danach flutscht es. Der erste Pinselstrich, das erste Wort, das erste Konzept, der erste Gedanke, das erste C#-Objekt…
    Das dauert einfach ewig und diese Zeit kann man sich sparen.
  2. Die Angst Fähler zu machen (Bin gespannt, ob diese gewollte Schreibweise durch unsere Rechtschreibkontrolle geht :-))
    Wer sagt denn, dass der erste Pinselstrich am Ende noch zu sehen sein muss, das erste Wort nicht geändert werden kann, das erste Konzept nicht am Ende nur noch als Ahnung zurückbleibt, der erste Gedanke auch der ist, der als erstes wieder verworfen wird, das erste C#-Objekt, das am Ende gar nicht mehr benötigt wird? Niemand. Eigentlich ist uns allen klar, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass die Anfänge am Ende verworfen werden, weil wir unterdessen bessere Möglichkeiten, schönere Striche und passendere Worte finden.
    Aber wir wollen perfekt sein. Wer einen Fehler macht, den kann man angreifen. Deswegen lernen Kinder schon heute kleine Malheure – wie das umkippen eines Bechers zu Tisch – zu vertuschen, damit es keiner merkt und wenn dann gefragt wird wer es war (Warum eigentlich? Ist das relevant?) keiner sagen muss, „ich war das“. Nein. Das sagt natürlich keiner. „Der Weihnachtsmann war das.“
    Das ist aber blöd, dies so zu tun und unsere Kinder in diese Richtung zu erziehen. Denn ohne Fehler gibt es keinen Fortschritt. Und ich meine das so, wie ich es hier schreibe!
    Hast Du erst das Laufen erlernt, als Du wusstest, du kannst nicht hinfallen? Wie war das beim Fahrradfahren? Deine Grammatik bei der Aussprache der ersten Sätze war perfekt und der Wortschatz ausreichend, um dich auszudrücken? Kannst Du ein Instrument spielen? Gleich perfekt gelernt? Edison hat 1.000 Wege gefunden, wie eine Glühbirne nicht funktioniert. Wenn er für jeden Weg einen Arbeitstag benötigt hat, dann hat er 4,5 Jahre nur Fehler gemacht und ohne Erfolg gearbeitet, bis er zu seinem Durchbruch kam. Wie oft hat Dirk Nowitzki daneben geworfen und tut es auch heute noch, um seinen Status als einer der weltbesten Spieler zu erhalten?
  3. Fehler sind Dünger! Ausbildungsentgeld! Liebe Führungskraft, wenn Deine Mitarbeiter keine Fehler machen, lernen sie nichts. Sie tun nur, was sie schon können und sie machen nicht genug. Wenn aber einer Deiner Engagierten einen Fehler macht, dann ist das super. Denn dann kannst Du mit ihm sehr einfach darüber reden, gemeinsam lernen und Maßnahmen festlegen, dass dies nicht noch einmal geschieht. Die Kosten, die ein Fehler erzeugt, sind die Investition in die Zukunft. Und wenn ein Umfeld besteht, in dem Fehler auch als solche bekannt werden dürfen, entsteht Vertrauen. ssQ bietet einen Baustein für ein solches Umfeld. Ich mache etwas und ich weiß, dass es fehlerhaft ist, es ist erlaubt und alle wissen das auch und können verbessern, ohne denken zu müssen, dass sie dabei möglicherweise dem Autor eines Vorschlages „auf den Fuß treten“.
    Eine alte Weisheit spricht davon:

    10.000 Stunden bis zur Meisterschaft

    Nichts geht schnell… Aber Zeit verplempern muss man auch nicht.

  4. Die Angst loszulassen
    Ich will es aber perfekt machen. Es muss gleich super sein, alle vom Hocker hau’n! Dafür stehe ich doch. Ich bin der geilste. Bist Du auch, aber nur dann, wenn Du offen genug bist, das Wissen anderer mit einzubauen. Und das bekommst Du früher und schneller, wenn Du es nicht erst einmal perfekt machst. „Früh und häufig Scheitern“ kenne ich aus der Agilen Software Entwicklung. Kunden sofort einbinden. Auch mit schlechter Qualität? Ja!* (*wenn siehe oben)…
    Zeig uns Deine Ideen, quasi die Kinder Deines Geistes. Auch wenn sie noch nicht perfekt sprechen können und noch am Lernen sind. Sie können lernen sich zu behaupten, Hornhaut entwickeln und lernen gut zu Fallen. Danach aufstehen, Krönchen richten und Wachsen. Gib sie frei!

Denn worin wir wirklich gut sind, das ist Besserwissen!

Darin sind wir doch alle Spitze und das machen wir alle gerne. Wir sehen etwas und mäkeln dran rum. Wissen, wie wir es besser gemacht hätten. Wie cool! Ich rufe euch dazu auf, diese Kompetenz zu nutzen! Nehmt das Prinzip der schnellen schlechten Qualität und macht es zur Regel.

Habt keine Angst davor zu scheitern,
Habt Angst davor, es nicht zu versuchen!

So funktioniert das Prinzip

  1. Stelle eine Aufgabe und gib 25 Minuten Zeit – es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, was das Beste ist, wie man es perfekt machen kann – für einen ersten Pinselstrich, einen Gedanken, einen Text, ein Konzeptentwurf, einen Plan, eine Architektur.
  2. Nutze die Verbesserungskompetenz deiner Engagierten – alle kennen die Zeit, in der dieser Vorschlag entstand und wissen, dass er nicht perfekt sein kann, dass nicht alles durchdacht werden konnte und somit Fehler enthalten wird. Auch der Autor. Er kann viel besser mit den Vorschlägen umgehen und muss nichts verteidigen.
  3. Dadurch erhältst Du etwas Seltenes in Deiner Gruppe, Deiner Abteilung, Deiner Unternehmung: Erschaffenskompetenz! Der Output an Neuerungen wird wachsen.

Viel Spaß beim Umsetzen, erzählt mir von den Ergebnissen.

Ich möchte mit Yoda schließen:

No! Try not! DO or DO NOT, no try there is.

Es ist besser die richtigen Dinge falsch zu machen, als die falschen richtig.

Christian